RKI gibt zu, das Reproduktionszahl unter 1 liegt!
Heute, also nach (!) der Verlängerung der Maßnahmen ohne substantielle Lockerungen für die Bevölkerung, und zwei Tage, nach dem Merkel der Nation erklärt hat, wie wichtig es ist, dass die Reproduktionszahl R nicht von 1,1 auf 1,2 steigt, geht der Gesundheitsminister und der Präsident des Robert-Koch-Instituts vor die Presse und sagen, R liegt bei 0,7. https://www.sueddeutsche.de/politik/coronavirus-news-deutschland-1.4828033.
Hier der Link zur Stellungnahme des RKI: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-16-de.pdf?__blob=publicationFile
Und plötzlich heißt es, der Ausbruch ist beherrschbar. Also vorbei mit #flattenthecurve. Schluss mit Herdenimmunität. Aber natürlich sind sich alle einig, dass das ein Erfolg der Maßnahmen ist. Ich habe da im letzten Blogpost Zweifel angemeldet: https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/04/bleibtzuhause-hat-nicht-zu-einer.html.
Alternative Berechnung eines Pseudo-R
Vielleicht sind ja auch die Daten und ihre Aufarbeitung das Problem. Es ist ja schon sehr merkwürdig, dass das RKI gerade Zahlen von vor zwei Tagen widerruft. Im letzten Post habe ich sehr ausführlich erklärt, wie das RKI die Reproduktionszahl R berechnet. Leider teilt das RKI weder Daten noch genaue Methoden. Insofern lässt sich das nicht reproduzieren. Die Idee dahinter lässt sich aber ganz einfach in etwa "nachbauen". (Philip Kreißel, @pkreissel auf Twitter, hat was ganz ähnliches gemacht und kommt m. M. nach zu ähnlichen Ergebnissen.) Wir nehmen die offiziellen Fallzahlen, bilden den Mittelwert über ein Fenster von sieben Tagen, um den wöchentlichen Trend zu glätten und berechnen dann den Koeffizienten der Werte von heute im Verhältnis von den Werten von vor vier Tagen (vier Tage, weil das RKI das als Generationszeit annimmt).Die Codes finden sich hier: https://github.com/SimonHegelich/CoronaTime/blob/master/COVID-Pseudo-R.R
Das Ergebnis ist nicht identisch mit den Berechnungen des RKI! Wie im letzten Post beschrieben, betreiben die einen sehr großen Aufwand, haben andere Daten zur Verfügung und kommen zu einem Modell, in dem sich bedingte Wahrscheinlichkeiten zu großen Unsicherheiten addieren.
Der RKI-Ansatz hat bestimmt einige Vorteile, aber eben auch diverse Nachteile: nicht reproduzierbar ohne die RKI-Daten, unstabile Einschätzungen je näher man an die Gegenwart kommt, Vielzahl von Annahmen über Verteilungen, die Fehlerquellen sein können. Beide Ansätze versuchen, dass gleiche abzubilden. Man darf jetzt aber nicht die Werte für jeden Tag vergleichen, die müssen unterschiedlich sein.
Hier das Ergebnis:
Und zum Vergleich noch einmal der RKI-Plot:
Wenn man die beiden Plots analysiert, dann fallen einige Ähnlichkeiten auf. Gerade der Verlauf seit dem 7.03. (Beginn des RKI-Plots) bis zum 26.03. scheint sehr ähnlich zu sein. Allerdings schätzt das RKI R zunächst höher aber ab dem 21.03. dann deutlich niedriger (nämlich unter dem kritischen Wert von 1). Nach dem 26.03. steigt die Kurve beim RKI wieder an und die Unsicherheit im Modell nimmt deutlich zu. In meiner Berechnung sinkt die Kurve nach dem 26.03. und erreicht am 1.04. ein Niveau von unter 1. Und für heute (also eigentlich für den 13.03. weil man ja vier Tage zurückrechnen muss) sagt mein Modell einen Wert von 0,7 vorher. Klingt doch nicht schlecht!
Was bedeutet eine Reproduktionszahl von 0,7?
Die Zahl bedeutet, dass jeder Infizierte im Durchschnitt 0,7 andere Personen infiziert. Laut meinen Berechnungen hatten sich am 13.03. ca. 2790 Personen infiziert. Bliebe diese Zahl stabil, dann gäbe es in ca. 40 Tagen weniger als 100 Neuinfektionen. Aber die Zahl wird nicht stabil bleiben. Wenn die Entwicklung sich wie im Modell fortsetzt, dann nimmt R weiter ab, so dass die Zahl der Neuinfektionen sich schon bald alle vier Tage halbiert und sogar noch weiter sinkt. S-Kurvenmäßig, halt: https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/03/sigmoid-oder-exponentiell.html. Vielleicht ist die Pandemie in 14 Tagen vorbei.
Außerdem eröffnet das Sinken der Fallzahlen ganz neue Handlungsspielräume: Wenn die Fallzahlen weiter sinken kann man sich darauf konzentrieren, Neuinfizierte zu entdecken, sehr schnell zu testen und dann die Ausbreitung weiter zu verhindern.
Selbstverständlich gibt es auch das Risiko, dass sich neue Leute infizieren und die Fallzahlen wieder steigen. Was natürlich die Frage aufwirft, was die richtigen Maßnahmen sind.
Die Politik hat mit ihrer Einschätzung bislang ständig daneben gelegen
Die echte Entwicklung läuft bisher viel günstiger, als die offiziellen Szenarien vorhergesagt haben. Und zum Teil wurden offenbar auch Informationen zurückgehalten, weil zum Beispiel erst die Verlängerung der Maßnahmen durchgesetzt werden wollte. Unsere Politik regiert nach wie vor mit Angst: https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/04/covid-s-kurven-revisited-eine.html
Auch wenn wir uns alle freuen können, dass es offenbar sehr günstig verläuft in Deutschland sollten wir trotzdem nicht vergessen, dass alle bisherigen Vorhersagen verkehrt waren. Es hieß, die Seuche breitet sich aus bis zur Herdenimmunität oder bis ein Impfstoff da ist. Es hieß, das Wachstum ist exponentiell. Es hieß, ein R von unter 1 ist kaum schaffbar. Es hieß auch, dass selbst dann die Fallzahlen erst in Monaten soweit gesunken sind, dass man an eine Eindämmung denken kann.
Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass das offenbar alles falsch war und keiner das hören wollte. Und es wäre wichtig, zu verstehen warum, denn auch jetzt kann man noch viel falsch machen.
"Das Sinken von R beweist, dass die Maßnahmen wirken!" I don't think so.
Wenn ich mir meine Kurve anschaue, dann sieht es eher so aus, als würde R seit dem 13.03. sehr stetig fallen. Es gibt immer wieder "Hubbel" wo offenbar die Fallzahlen plötzlich steigen, aber die Tendenz zeigt deutlich nach unten. Ich kann nicht sehen, dass die Maßnahmen, gerade vom 23.03. an dieser Tendenz etwas geändert hätten.
Ich hätte auch eine alternative Erklärung, aber da bewege ich mich jetzt spekulativ aus meinem Fachgebiet heraus: Vielleicht steckt sich einfach nicht jeder an, sondern die Verbreitung des Virus beschränkt sich - ein gewisses Maß an Achtsamkeit und Hygiene vorausgesetzt - auf Cluster. Wer krank ist, steckt in der Regel die Leute im engeren Umfeld an. Aber nicht jeden auf der Straße. Mit der Zeit werden es immer weniger Cluster, weil in die infizierten Clustern alle bereits krank waren und wenige neue Cluster dazukommen. Teilweise passiert das trotzdem und dann steigen die Fallzahlen sprunghaft, weil ein ganzes Cluster dazukommt. Aber sie nehmen auch wieder ab.
Diese Theorie würde auch die Entwicklung in anderen Ländern erklären. In China wurden die Cluster identifiziert und isoliert und sogar die Rückkehr von positiv Getesteten zu ihren Familien untersagt. Und China hat den schnellsten Verlauf.
In Italien sind die Cluster vermutlich wesentlich größer, weil wir eine andere Familienstruktur haben und viele Leute auf engem Raum zusammenleben. In Deutschland mit den vielen Single-Haushalten sind die Cluster verhältnismäßig klein.
Ist nur eine Theorie, würde aber Sinn ergeben. Und würde auch erklären, warum allgemeine Kontaktverbote nicht viel helfen: Denn offenbar hatte man es in Deutschland schon vor dem 23.03. geschafft, dass sich weniger neue Cluster anstecken. Gegen Infektionen in bestehenden Clustern hilft die Ausgangssperre aber wenig. Im Gegenteil, sie kann eventuell sogar negativ sein, zum Beispiel in Altenheimen. Diese Theorie ließe sich übrigens anhand der Daten des RKI überprüfen. Und es würden für die Zeit jetzt völlig andere Maßnahmen daraus folgen als die Aufrechterhaltung des Kontaktverbots.
Was sich nicht beweisen lässt, lässt sich auch nicht widerlegen!
Im letzten Post habe ich mich mit den Zahlen der Robert-Koch-Instituts zur Reproduktionszahl R auseinandergestzt und behauptet, dass es keinen Beweis gibt, dass die Lockdown-Maßnahmen einen positiven Effekt haben: https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/04/bleibtzuhause-hat-nicht-zu-einer.html.Auf Twitter gab es darauf hin eine sehr fruchtbare Debatte. Das Hauptargument, was mir entgegengehalten wird ist: "Du kannst aber auch nicht beweisen, dass die Maßnahmen keinen Effekt haben. Und da es um Menschenleben geht, bleiben wir doch besser dabei!"
Dieses Argument dreht die Beweislast um. Es ist meistens unmöglich, zu beweisen, dass irgendetwas nicht doch irgendwie wirkt. Homöopathie zum Beispiel. Oder Zauberei. Wenn es um Maßnahmen ginge, die keinen Schaden anrichten, dann wäre das Argument vertretbar. Aber der Lockdown hat massive soziale Folgen, die wir erst in den kommenden Monaten richtig spüren werden.
Es ist schon nachvollziehbar, dass sich die Politik für diese Maßnahmen entschieden hat. Dahinter stehen ja ganze Theoriegebäude der Virologie.
Mein Argument ist schlicht: Entweder, jemand kann erklären, dass die Maßnahmen doch etwas bewirken und zwar in einer Art und Weise, die auch irgendwie überprüft werden kann, oder es ist riskant und unwissenschaftlich, die Maßnahmen aufrecht zu erhalten. Dann lasst uns doch lieber zurück zu dem Stand vom 20.3. Hat doch auch gut funktioniert, also warum die Angst?
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