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Haben die #COVID Maßnahmen einen erkennbaren Effekt? Ein Nachtrag

"Die Maßnahmen von 23.03.2020 haben nicht zu einer Senkung der Reproduktionszahl R geführt.", ist die These, die ich vertrete.

Zur Klarstellung: 

Ich sage nicht, ich könne beweisen, dass die Maßnahmen nicht gewirkt haben. Es ist allerdings auch unlauter, einen Beweis für eine Nicht-Wirkung einzufordern, wenn die Wirkung nicht näher bestimmt ist. Ich kann auch nicht beweisen, dass Homöopathie oder Zauberei nicht wirkt. Aber eigentlich ist es anerkannte wissenschaftliche Praxis, dass eine behauptete Wirkung nachgewiesen werden muss. Die Politik behauptet, die Maßnahmen vom 23.03.2020, die ich im Folgenden als "Lockdown" bezeichnen möchte, hätten gewirkt. Die Daten liefern diesen Beweis meiner Meinung nach nicht.
In Bezug auf die Reproduktionszahl heißt eine positive Wirkung, dass diese Werte durch die Maßnahmen niedriger ausfallen, als sie ohne sie wären. Das Problem ist, wir wissen natürlich nicht, wie die Zahlen ohne die Maßnahmen aussehen würden.
Es ist daher logisch anzunehmen, dass ohne die Maßnahmen der Trend, der sich bis dahin abzeichnet, fortgesetzt wird (was genau "der Trend" ist, ist allerdings gar nicht so leicht zu sagen). Oder es lassen sich andere Einflussgrößen identifizieren, die den Trend unabhängig von den Maßnahmen beeinflussen.
Meine These soll zur Diskussion anregen. Es wäre doch schade, wenn wir alle zuhause sitzen und immense gesellschaftliche Schäden in Kauf nehmen, wenn es das gar nicht bräuchte. Die Freiheit, diese These zu verfolgen, sollte sich zumindest die Wissenschaft nehmen, aber eigentlich wir alle. Da braucht man nicht gleich Schnappatmung kriegen und Menschenleben in Gefahr sehen, denn nur weil wir uns vielleicht wünschen, dass die Maßnahmen funktionieren, heißt das ja noch nicht, dass das auch notwendig stimmt. Umgekehrt ist noch niemand dadurch gestorben, dass man sich über eine Kurve und ihre Interpretation austauscht.
Es gibt drei ernstzunehmende Einwände gegen meine These:

  1. Die Maßnahmen können erst verzögert wirken
  2. Durch gestiegene Testkapazitäten sind die Daten verzerrt
  3. Die Ausbreitung in den Altersheimen hat zu einem Anstieg geführt der ohne die Maßnahmen noch höher ausgefallen wäre
Auf alle drei Punkte möchte ich eingehen.

Lagebestimmung

Ich habe versucht, alle wesentlichen Informationen in einen Plot zu packen. Der sieht jetzt so aus:


Zum Vergleich auch noch einmal der Plot mit den vom RKI berechneten R-Werten:


Was sehen wir hier auf meinem Plot? Die wichtigste Kurve ist olivgrüne. Das ist die Pseudo-Reproduktionszahl. Pseudo deshalb, weil ich anders als das RKI nicht versuche, aus den Daten die Zahl der Erkrankten zu schätzen. Das Pseudo-R gibt das Verhältnis von gemeldeten Fällen von vor vier Tagen im Vergleich zu heute an. Durch die unterschiedliche Meldepraxis am Wochenende ist es wichtig, den wöchentlichen Trend vorher herauszurechen. Wie das geschieht, habe ich hier dargelegt: https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/04/reproduktionszahl-plotzlich-doch-unter.html
Im Unterschied zum letzten Post verwende ich jetzt allerdings die Daten direkt vom RKI, da diese nach Altersgruppen aufgeschlüsselt sind (das RKI stellt übrigens viel mehr Daten zur Verfügung, als von mir bislang wahrgenommen. Ein Teil meiner Kritik am RKI ist daher zu relativieren.).
Die grüne Kurve zeigt dieselbe Berechnung, allerdings nur auf der Altersgruppe der über 60-Jährigen berechnet, während die blaue Kurve das Pseudo-R der unter 60-Jährigen zeigt.
Die pinken Punkte mit den Konfidenzintervallen sind die offiziellen R-Werte des RKI, die ich aus den täglichen Lageberichten entnommen habe. Leider wird dieser Wert erst seit 15 Tagen reportet. Bei den offiziellen Werten davor gibt es nur den Plot, den ich in meinen letzten Posts besprochen habe (zumindest habe ich die Daten nicht finden können). Die offiziellen Werte weichen von meinen Berechnung ab, weil das RKI über den so genannten Nowcast versucht, die Zahl der Erkrankten zu schätzen, die noch gemeldet werden anstatt der tatsächlich gemeldeten (siehe letzter Blogpost). Gerade in den letzten Tagen sind die Werte von mir und vom RKI aber nahe bei einander. Auch der Nowcast schätzt nicht, wie hoch die absolute Zahl der Erkrankten ist. Da gibt es eine Dunkelziffer, über die Momentan nur spekuliert werden kann. Deshalb sind die Unterschiede m. M. nicht so relevant: Denn die Personen, die der Nowcast zusätzlich annimmt, werden dann ja irgendwann in den gemeldeten Daten auftauchen. Der Nowcast verkürzt also das Timelag, was es gibt, dadurch, dass der Tag der Erkrankung (Symptome) geschätzt ist, nicht der Tag der Meldung. Dafür kommt aber ein hohes Maß an Unsicherheit in die Schätzung.
Zusätzlich sind noch die durchgeführten Tests laut RKI eingetragen. Die gestrichelten violetten Linien zeigen, um wie viel Prozent sich die Tests von Kalenderwoche zu Kalenderwoche verändert haben.

Wann kann eine Maßnahme wirken?

Angenommen, ab heute würde sich niemand mehr infizieren. Trotzdem hätten wir ja weitere Erkrankungen und Meldungen. Dazu das RKI:
"Die Inkubationszeit gibt die Zeit von der Ansteckung bis zum Beginn der Erkrankung an. Sie liegt im Mittel (Median) bei 5–6 Tagen (Spannweite 1 bis 14 Tage)" (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText4).
In unserem Beispiel müssten wir also 14 Tage mit weiteren Erkrankungen rechnen, wobei der Peak an Tag fünf wäre. Beim Pseudo-R kommt jetzt noch die Zeit zwischen der Erkrankung und der Meldung hinzu. Gehen wir davon aus, dass zwischen Erkrankung und Meldung im Durchschnitt 2 Tage liegen. Meldeverzug an den Wochenenden kann allerdings vernachlässigt werden, denn der ist schon aus dem Pseudo-R herausgerechnet durch das detrenden.
Das heißt, eine Maßnahme würde im Prinzip ab dem ersten Tag wirken, allerdings ihre Wirkung erst richtig nach fünf Tagen - gemessen an R - bzw. nach sieben Tagen - gemessen am Pseudo-R - entfalten. Und auch 14 (bzw. 16) Tage später könnte eine Maßnahme, die nur einen Tag angedauert hat, noch einen Effekt haben. Allerdings nimmt der Effekt über die Zeit ab. Da ich nicht weiß, wie die Verteilung der Inkubationszeit ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als diese Medianwerte von 5 und 7 Tagen zu nehmen.

9.03.2020: Absage von Großveranstaltungen

Betrachten wir zunächst die Kurve vom RKI mit dem "echten" R. Der Effekt der Maßnahmen vom 9.03. müsste ab dem 14.03. sichtbar sein. Und tatsächlich hat die Kurve am 14.03. eine ganz andere Richtung. R nimmt deutlich ab. Da der Effekt ja nicht sprunghaft am 14.03. zu erwarten ist, sondern sich langsam aufbaut, macht die Story durchaus Sinn, dass die Maßnahmen vom 9.03. zu einer Senkung von R beigetragen haben. Ob das tatsächlich so ist, wissen wir übrigens auch nicht, aber die Daten sprechen nicht gegen diese Theorie.
Auch in meinem Plot lässt sich das entsprechend aufrecht erhalten. Das Pseudo-R vom 16.03. ist deutlich niedriger als vom 9.03. Ein paar Zweifel sind hier allerdings angebracht, weil sich der Effekt doch recht schnell nach dem 9.03. einstellt und die Zahlen vom 15.03. auf den 16.03. steigen. Persönlich finde ich auch nach wir vor, dass das Sinken von R nach dem 9.03. Sinn ergibt: Die Leute sind gewarnt, sie halten Abstand, waschen sich die Hände etc.

16.03.2020: Schließung von Kneipen etc.

Die Maßnahmen vom 16.03. müssten sich im RKI Plot ab dem 21.03. bemerkbar machen. Die Kurve wird da aber flach. Eine senkende Tendenz ist nicht ersichtlich. Ganz ähnlich in meinem Plot: Das Pseudo R sinkt zwar weiter ab dem 23.03., aber längst nicht so stark wie bislang. In beiden Plots gibt es also ohne Hilfsannahmen keine positive Wirkung der Maßnahmen zu sehen.

23.03.2020: Lockdown

Hier sehen wir das gleiche Bild. Laut RKI ist das R am 28.03. auf demselben Niveau wie am 23.03. In meinem Plot nimmt das Pseudo-R weiter ab. Aber mit genau der gleichen Steigung wie bislang. Es ist also nicht ersichtlich, dass durch die Maßnahmen vom 23.03. eine Senkung erreicht wurde, die nicht schon vorher im Gange war. Und die Tendenz des Sinkens hat sich auch nicht beschleunigt.

Dieser ernüchternde Befund sollte einem eigentlich zu denken geben. Das RKI (und viele Leute zum Beispiel auf Twitter schließen sich an) nennt zwei mögliche Ursachen als Erkärung:
"Ein Grund dafür, dass der Rückgang der Neuerkrankungen trotz der gravierenden Maßnahmen nur relativ langsam passiert, ist, dass sich das Virus nach dem 18. März stärker auch unter älteren Menschen ausbreitet und wir zunehmend auch Ausbrüche in Pflegeheimen und Krankenhäusern beobachten. Ein weiterer Aspekt ist aber auch, dass in Deutschland die Testkapazitäten deutlich erhöht worden sind und durch stärkeres Testen ein insgesamt größerer Teil der Infektionen sichtbar

Testkapazität als entgegenwirkende Ursache

Die Berechnung des R ist relativ unabhängig von der Anzahl der Tests. Es werden ja immer zwei Daten im Abstand von vier Tagen in ein Verhältnis gesetzt. Also nur, wenn die Zahl der Tests in diesen vier Tagen sich verändert, kann das einen Einfluss auf das R des entsprechenden Tages haben. Wenn aber die Zahl der Tests kontinuierlich steigt, dann kann es sein, das auch das R steigt. Es ist also theoretisch durchaus plausibel, dass ein Ausbau der Testkapazitäten zu einer Erhöhung von R führt, die dann durch die Maßnahmen kompensiert wird. Das RKI hat die Zahlen der Tests pro Woche ab Kalenderwoche 11 veröffentlicht. (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-15-de.pdf?__blob=publicationFile)
Ich habe diese wöchentlichen Werte in meinen Plot eingetragen und zwar als prozentuelle Veränderung zum Wert der Vorwoche (gestrichelte lila Linien). Tatsächlich sind die Testzahlen von der 11. auf die 12. KW stark gestiegen (mehr als verdoppelt). Danach bleiben sie relativ konstant (und sinken sogar).
Wann müsste man den Effekt des Anstiegs der Tests in den Daten sehen? Wenn am 16.03. mehr getestet wird, dann habe ich auch mehr neue positive Fälle. Die setze ich zu den Werten vom 12.03. in ein Verhältnis. Es sieht jetzt so aus, als ob die Leute, die am 12.03. schon infiziert waren, mehr Leute angesteckt haben. Ab dem 16.03. ist der Effekt der Zunahme dann aber auch schon wieder weg, wenn nicht kontinuierlich die Kapazitäten erhöht werden, was nicht der Fall war. Damit lässt sich der kleine Hübbel um den 16.03. herum erklären. Das geringe Abflachen der Kurve nach dem 23.03. kann aber mit den Testkapazitäten nichts zu tun haben (sofern die Daten stimmen).
Das Argument, die gesteigerten Kapazitäten hätten R erhöht und die Maßnahmen hätten es dann trotzdem immerhin ein bisschen gesenkt, ist also zurückzuweisen.

Infektion älterer Menschen treibt angeblich R nach oben

Das Argument des RKI, die Zahlen sähen "zu schlecht" aus, weil sich viele ältere Menschen angesteckt hätten, ist perfide. Denn zunächst muss man fragen, warum ältere Menschen aus der Wirkung der Maßnahmen rausgerechnet werden sollten. War denn der Lockdown nicht auch zum Schutz der Älteren in Pflegeeinrichtungen? Ist es weniger schlimm, wenn sich Ältere infizieren? Ist eine Maßnahme, die "bloß Ältere" nicht schützt, dennoch effektiv? Das Argument enthält auf jeden Fall die Klarstellung, dass die Maßnahmen zumindest diese Bevölkerungsgruppe nicht geschützt haben.
Betrachtet man die grüne und die blaue Kurve in meinem Plot, dann wird zudem deutlich, dass das Argument nicht nur zynisch sondern auch nicht schlüssig ist. Die Reproduktionszahl liegt für Ältere (wie zu erwarten) höher. Es werden mehr Ältere positiv getestet als Jüngere, was mit dem milderen Verlauf bei Jüngeren zusammenhängt. Aber: wenn man die Älteren aus der ganzen Statistik rausrechnet (blaue Kurve) verhält sich die Reproduktionszahl immer noch wie hier beschrieben.
Auch das Argument, die Maßnahmen hätten gewirkt, der Effekt wäre nur durch die Infizierung von Älteren "verzerrt" ist zurückzuweisen.

Fazit

Ich kann immer noch keinen empirischen Hinweis finden, dass die Maßnahmen vom 16.03. und vom 23.03. zu einer Senkung der Reproduktionszahl beigetragen haben. Mein Schluss daraus ist, dass entweder ein Beleg für den behaupteten Effekt der Maßnahmen her muss, oder wir uns dringend etwas anderes überlegen sollten. Vielleicht diesmal was, was auch Ältere schützt.

Und wie immer: Erklären kann ich auch nicht, warum es so läuft, wie es läuft. Ich bin aber auch nicht bereit, an eine Therapie zu glauben, deren Effekt ich nirgends sehen kann.

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