In 2022 geht die Zahl der Lebendgeborenen in Deutschland stark zurück. Der folgende Beitrag zeigt, dass es sich dabei kaum um Zufall handeln kann, denn die Zahlen für die Monate Januar bis März weichen extrem von den Werten ab, die eigentlich erwartbar wären.
Die Daten in diesem Beitrag kommen alle vom Statistischen Bundesamt und sind in der GENESIS-Datenbank abrufbar:
https://www-genesis.destatis.de/genesis//online?operation=table&code=12612-0002&bypass=true&levelindex=0&levelid=1656348297725#abreadcrumb
Betrachten wir zunächst die Daten seit 1990:
Man sieht dreierlei: 1. geht die Anzahl der Geburten in 2022 stark zurück. 2. waren die Zahlen, zum Beispiel 2010 schon mal niedriger. 3. gibt es einen sehr deutlichen saisonalen Trend: Die Anzahl der Geburten variiert deutlich je nach Monat.
Den letzten Punkt kann man statistisch benutzen, um die Zeitreihe zu "zerlegen" (decompose). Dabei versucht man, den saisonalen Effekt von einem generellen Trend zu trennen. Das Ergebnis sieht dann so aus:
In den unteren beiden Plots wird bereits deutlich, dass der Rückgang in 2022 immens ist.
Noch übersichtlicher wird dies, wenn wir den Beobachtungszeitraum verkleinern und uns die Zeit von 2015 bis heute anschauen.
Wenn wir jetzt den saisonalen Effekt von den ursprünglichen Werten abziehen, dann haben wir die Daten saisonal bereinigt.
Hier sieht man jetzt sehr deutlich, dass es 2022 einen Bruch gibt.
Anschaulich wird dies auch, wenn wir uns die Differenz von einem Monat zum nächsten in den saisonal bereinigten Daten anschauen.
Der Vergleich der beiden letzten Grafiken enthält eine wichtige Information. Seit 2021 ist die Anzahl der Lebendgeborenen erst stark gestiegen und dann drastisch zurück gegangen. Gleichzeitig ist der plötzliche Rückgang im Januar 2022 aber von einer ganz anderen Größenordnung als der vorherige Anstieg.
Wir können noch weiter gehen und ein ARIMA-Model fitten. Das bedeutet, wir versuchen, die Werte der Zeitreihe auf Basis der vergangenen Werte vorherzusagen. Das Modell bezieht also die Saisonalität ein und versucht durch Autoregression die Werte zu schätzen. Dann können wir uns anschauen, wie weit die geschätzten Werte für jeden Monat von den echten Werten abweichen (Residuals).
Für alle drei Monate in 2022 weichen die echten Zahlen deutlich nach unten von dem Modell ab. Die Abweichung in Januar 2022 von fast 15.000 Fällen ist dreimal so stark wie jede andere Abweichung. Hier haben wir es mit einem klaren Outlier zu tun, der mit der bisherigen Entwicklung der Geburtenzahlen nicht erklärbar ist.
Das wird auch sichtbar, wenn wir das Modell ohne die letzten 12 Monate trainieren und dann das letzte Jahr vorhersagen.
Die echten Zahlen (in rot) sind für 2022 (und nur für 2022) außerhalb des 95%-Konfidenzintervalls. D, h., die Wahrscheinlichkeit, solche Abweichungen zufällig zu sehen, ist - unter den Bedingungen, dass die statistischen Annahmen für Modell und Konfidenzintervall zutreffen - geringer als 5%.
Was passiert hier?
Diese Frage lässt sich aus den Daten nicht beantworten. Sie beschäftigt aber natürlich jeden und daher seien hier ein paar Spekulationen erlaubt. Klar ist, dass es sich um einen dramatischen Rückgang handelt. Aber Vorsicht ist wie immer geboten. Erstens sind die Daten laut Statistischem Bundesamt noch vorläufig. Ein Fehler in den Daten ist daher nicht ausgeschlossen.
Wenn die Daten stimmen, ist es kaum vorstellbar, dass diese Entwicklung nicht im engen Zusammenhang mit Covid steht. Denn welches andere Geschehen der letzten Jahre hätte die Potenz, die gesellschaftliche Reproduktion derart zu tangieren? Natürlich fällt auf, dass neun Monate vor diesem Sprung nach unten die Impfkampagne in Deutschland begonnen hat. Ein Zusammenhang sollte also unbedingt überprüft werden. Es ist allerdings nahezu ausgeschlossen, dass dieser Effekt zumindest vollständig durch die Impfung verursacht worden ist. Zwar gibt es einige Studien und erschreckend viel "anekdotische Evidenz", dass die Impfung den Zyklus von Frauen stark durcheinander bringt. Aber wir reden hier von einer Abweichung von bis zu 15.000 Geburten nach unten. Ende März 2021 waren in Deutschland ca. 10.000.000 Personen geimpft. Ich denke nicht, dass da so viele Frauen im gebärfähigen Alter dabei waren, dass man eine solche Abweichung sehen könnte. Meine Schätzung wäre, dass es höchstens 3.000.000 relevante Personen sein können, die in einem Monat im Durchschnitt etwa 6.500 Kinder zur Welt bringen können und deshalb unter keinen Umständen diesen Effekt in seiner Gänze erklären, aber das ist eine sehr vage Schätzung.
Dann gibt es einen statistischen Effekt: Die Geburtenrate war in den Monaten vor dem Rückgang deutlich höher als basierend auf dem Modell erwartet. Denkbar wäre, dass mehr Paare, die eigentlich einen Kinderwunsch haben, diesen Plan so zu sagen während der Lockdowns und der ganzen Covid-Situation vorgezogen haben und sich dies nun zum Teil ausgleicht. Nur ist der vorherige Anstieg wesentlich unauffälliger und liegt sogar im Konfidenzintervall. Für die zweite Hälfte von 2021 hätte das Modell sogar einen noch höheren Anstieg erwartet.
Dann bleiben diverse soziale Faktoren: Es ist denkbar, dass Beziehungen an der Covid-Situation zerbrochen sind und neue weniger schnell aufgebaut werden. Auch könnte man sich vorstellen, dass die allgemeine Verunsicherung viele potentielle Eltern davon abhält, Kinder zu bekommen. Dann würde man aber eigentlich einen kontinuierlichen Rückgang während der Pandemie erwarten und nicht solche krassen Sprünge.
Es bleibt also bislang ein großes Rätsel, was aber deutlich macht, wie fundamental sich die Gesellschaft offenbar in den letzten Jahren verändert hat. Leute aus anderen Disziplinen sollten dringend nach Erklärungen für dieses Phänomen suchen, weil sich diese in (diesen) Daten nicht finden lassen.
Eine andere Geburtenstatistik sollte ebenfalls aufhorchen lassen
Leider ist nicht nur die Zahl der Lebendgeborenen zurück gegangen, sondern auch die Zahl der Totgeborenen in 2021 gestiegen. Beim Statistischen Bundesamt liegen diese Zahlen aber nur jährlich vor und in sofern lässt sich keine Aussage über 2022 machen.
Hier sieht man allerdings keinen Bruch (außer in den 90ern, als die Definition geändert wurde) sondern einen ziemlich linearen Anstieg seit 2012.
Die Zahl der Totgeborenen muss man natürlich ins Verhältnis zu den Lebendgeborenen setzen:
Hier sieht man, dass der prozentuale Anstieg 2021 zwar recht hoch ist, allerdings statistisch nicht auffällig. Deutlicher wird dies noch, wenn man die Differenz dieses Verhältnisses von Jahr zu Jahr betrachtet.