Um einzuschätzen, wie es so um Deutschland steht, schaut man auf die Zahlen und leitet daraus politische Maßnahmen ab. Zahlen gibt es genug: Die tägliche Anzahl der Neuinfektionen, die Anzahl der Verstorbenen, die Anzahl der durchgeführten Tests, alles heruntergebrochen auf demographische oder geografische Subgruppen, als absolute Zahlen oder als Verhältnis. An Daten mangelt es nicht. Eigentlich ein schönes Beispiel für evidenzbasierte Politik, sollte man meinen. Oder eben auch nicht, denn bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sich aus Daten alleine gar nichts ableiten lässt. Erst im Kontext einer Geschichte ergeben Daten einen Sinn. Wenn aber die Daten der Geschichte immer mehr widersprechen, dann sollte eine neue Erklärung gefunden werden anstatt zu versuchen, die alte Geschichte mit immer mehr Hilfsannahmen zu retten. Letzteres passiert leider derzeit in Deutschland und die scheinbare Objektivität einer datenbasierten Politik schlägt um in ihr Gegenteil. Die Abstraktionen, die aus den Daten „abgeleitet“ werden, werden in der Wirklichkeit geltend gemacht, „und Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören“ (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 20, Frankfurt am Main 1979, 330).
Welche Geschichte erzählt die deutsche Politik?
COVID-19 ist ein neuartiges Virus, das höchst ansteckend ist und zu einer Krankheit führt, die zwar meistens harmlos verläuft, aber potentiell gefährlich sein kann (siehe RKI Risikobewertung: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html). Welche Politik ist in dieser Lage angemessen? Die Bundeskanzlerin hat die entsprechende Linie vorgegeben und erläutert: "Es geht um das Gewinnen von Zeit" (https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/merkel-zu-corona-1729780). Das Vorgehen in Deutschland sei davon bestimmt, dass unser Gesundheitssystem nicht überlastet werde. Es soll verhindert werden, dass zu viele Menschen gleichzeitig eine Intensivbehandlung oder Beatmung brauchen und sich aufgrund fehlender Kapazitäten eine Überlastung des Gesundheitssystems einstellt. Als politische Zielsetzung wurde „#flattenthecurve“ ausgegeben und die Strategie zu seiner Erreichung sollte „Hammer and Dance“ sein (das Herunterfahren des sozialen Lebens zum Verlangsamen der Pandemie und dann das kontrollierte „Wiederhochfahren“, wobei nur so viele Fälle in Kauf genommen werden, wie das Gesundheitssystem verkraftet). Die politischen Maßnahmen der Strategie sind bekannt: Verbot von Großveranstaltungen, Social Distancing, Maskenpflicht usw.
Der ganzen Geschichte liegt ein Datenmodell - das so genannte SEIR-Modell (Susceptible - Exposed - Infected – Removed) - zugrunde. In einer „Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Epidemiologie (DGEpi) zur Verbreitung des neuen COVID-19-Virus (SARS-CoV-2)“ (https://www.dgepi.de/assets/Stellungnahmen/Stellungnahme2020Corona_DGEpi-21032020-v2.pdf) wurde früh mit Hilfe von SEIR-Modellen darauf hingewiesen, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems zu befürchten ist. Eine sehr gute online Simulation zum besseren Verständnis der SEIR Modelle findet sich hier: http://gabgoh.github.io/COVID/index.html. Die Grundannahme in diesem Modell ist, dass die Entwicklung der Krankheit einer exponentiellen Kurve folgt: Wer sich infiziert, steckt weitere Personen an, die wiederum weiter Personen anstecken. Im Fall von COVID-19 wird davon ausgegangen, dass ohne Maßnahmen jede/r Infizierte im Durchschnitt 2,2 weitere Personen ansteckt. Dies ist die so genannte Basisreproduktionszahl R0. Und wie man sich leicht vorstellen kann, sprengt dieser Prozess schnell jede Grenze: Mit jeder „Generation“ von Infizierten verdoppeln sich die Fälle. Deshalb ist es wichtig, Maßnahmen zu ergreifen, die die Reproduktionszahl (also den Faktor, wie viele Personen eine infizierte Person ansteckt) möglichst klein halten. Sinkt diese Zahl unter den Wert 1, dann gibt es irgendwann gar keine neuen Fälle mehr. Aber solange R über 1 ist, erhöht sich die Zahl der Infizierten. Die Bundeskanzlerin erläuterte dies sehr beflissen:
„Wir haben Modellbetrachtungen gemacht. Wir sind jetzt ungefähr bei diesem Reproduktionsfaktor 1. Also einer steckt einen an. […] Schon wenn wir darauf kommen, dass jeder 1,1 Menschen ansteckt, dann sind wir im Oktober wieder an der Leistungsfähigkeit unseres Gesundheitssystems […]. Wenn wir 1,2 - […] also von fünf Menschen steckt einer zwei an und vier einen, dann kommen wir im Juli schon an die Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems und 1,3 […] sind wir im Juni an der Belastungsgrenze unseres Gesundheitssystems.“ (Merkel https://twitter.com/netzfeuilleton/status/1250530636424712196).
Die Geschichte eines drohenden Kollapses des Gesundheitssystems war also durch wissenschaftliche Datenmodelle untermauert. Klar ließ sich die Geschichte von Anfang an anzweifeln. Beispielsweise in dem die Grundannahmen in Frage gestellt wird: Vielleicht ist COVID-19 gar kein neues Virus, sondern nur der Test ist neu und wir sind eigentlich alle daran gewöhnt? Vielleicht verschwindet das Virus von alleine? Vielleicht ist es besser, die Belastung des Gesundheitssystems einfach auszuhalten und schneller „Herdenimmunität“ zu erlangen? Persönlich halte ich halte die Annahme eines exponentiellen Wachstums für verkehrt. In einem komplexen System mit Selbstregulierung werden Wachstumsprozesse eher einer Sigmoid-Kurve folgen und nicht exponentiell sein (siehe https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/04/covid-s-kurven-revisited-eine.html). Aber evidenzbasierte Politik zeichnet sich nicht dadurch aus, dass sie ultimative Antworten auf alle Spekulationen liefert, sondern dadurch, dass das politische Handeln mit anerkannten wissenschaftlichen Theorien und empirisch überprüfbaren Daten begründet wird. Insbesondere mit Blick auf die enorme Unsicherheit auch in der Wissenschaft, war dies eindeutig gegeben. Die Anti-COVID-19-Politik der Bundesregierung muss also als vorbildliches Beispiel evidenzbasierter Politik gelten.
Risse in der Geschichte
Allerdings haben sich die Daten nicht so entwickelt, wie erwartet. Merkel erläuterte die Reproduktionszahl am 15.04.2020. Laut offiziellen Zahlen des Robert Koch Instituts (RKI) lag der R-Wert allerdings seit dem 21.03.2020 unter 1 (mit Ausnahme des 2.04.2020, wo der Wert bei 1,03 lag) (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/R-Wert-Erlaeuterung.pdf?__blob=publicationFile ). Die Berechnung des R-Wertes ist immer um eine Woche verschoben, weil Durchschnitte gebildet werden müssen. Aber auch wenn man den 8.04.2020 als Referenzdatum wählt, lag damals der R-Wert deutlich unter 1 (bei 0,82) und nicht – wie Merkel sagte bei etwa 1. Es ist eigentlich nicht vorstellbar, dass das RKI diese wichtige Entwicklung nicht im Auge hatte oder das die Kanzlerin nicht informiert war.
Abbildung 1 zeigt die Reproduktionszahl im Zeitverlauf (offizielle RKI-Daten).
Die Grafik lässt zudem vermuten, dass sich die Reproduktionszahl unabhängig von den politischen Maßnahmen entwickelt hat: Weder der so genannte „Lockdown“ - der im internationalen Vergleich ja eher eine moderate Ausgangsbegrenzung (in der Abbildung die rote Linie) war – noch die schrittweise Lockerung (dunkel und hell grün) scheinen einen sichtbaren Effekt auf die Reproduktionszahl zu haben. Effekte müssten aber nach sieben Tagen zu sehen sein (vgl. https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/04/die-reproduktionszahl-r-verstehen-und.html). Es fällt auf, dass die Reproduktionszahl ab Ende Mai stark schwankt. Dies liegt vornehmlich daran, dass es sich ja um einen Wert handelt, der ein Verhältnis bemisst: Bei sehr geringen Fallzahlen reichen dann einige wenige neue Fälle, um sichtbaren Spitzen zu erzeugen. Deshalb ist das RKI irgendwann dazu übergegangen, den durchschnittlichen R-Wert der letzten sieben Tage zu reporten (R7 in der Grafik) Ansonsten scheint es einen moderaten Anstieg des R-Wertes im Sommer zu geben.
Im Durchschnitt liegt der R-Wert für die komplette Periode leicht über eins. Mitte Juli bis Mitte August liegt der R-Wert sogar eine für längere Zeit über eins. Merkels Erklärung zufolge müssten wir also eine wachsende Belastung des Gesundheitssystems erlebt haben. Das ist aber nicht der Fall: Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) stellt (seit Ende Mai in einem einheitlichen Datenformat) die Zahlen der belegten Intensivbetten und Zahl der COVID-19-Patienten in den Krankenhäusern zur Verfügung. Abbildung 2 zeigt den zeitlichen Verlauf der prozentualen Auslastung und den prozentualen Anteil der Krankenhausbetten, die aufgrund des COVID-19 Virus belegt sind. Dem kann entnommen werden, dass das Gesundheitssystem stabil bleibt und ein Drittel der Intensivbetten konstant frei ist. Der Anteil der COVID-Patienten ist verschwindend gering (Maximum in dem Zeitraum 2,5 Prozent aller belegten Betten). Noch erstaunlicher ist, dass der Anstieg der Fallzahlen und der Reproduktionszahl auch über längere Zeiträume nicht zu einer Auslastung der Krankenhäuser führt. Es handelt sich offenbar um völlig unabhängige Größen.
COVID-19 war bislang keine Herausforderung für das deutsche Gesundheitssystem und es gibt in den Daten auch keinen Hinweis darauf, dass sich es zu einer solchen wird.
Wenn man die Anzahl der täglich gemeldeten Fälle mit der Belegung von Intensivbetten durch COVID-19-Patienten vergleicht (Abbildung 3), wird deutlich, dass der Anstieg der Fallzahlen im Sommer (die so genannte 2. Welle) einherging mit einer Abnahme der Patientenzahlen.
Die Fallzahlen sind also kein Indikator für die Belastung des Gesundheitssystems, weder absolut, noch als Reproduktionszahl und auch nicht als Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Letzteres ist aber der aktuell gültige Maßstab, an dem die Politik ihr Handeln ausrichtet: Wenn eine Gemeinde mehr als 50 Fälle pro 100.000 Einwohner aufweist, müssen Maßnahmen unternommen werden. Der Erfolgsmaßstab an dem diese Maßnahmen gemessen werden, beziehen sich jedoch nicht auf die Stabilisierung des Gesundheitssystems, sondern wiederum auf die Fallzahlen: Verringern sich die Fälle, dann waren die Maßnahmen erfolgreich. Bleiben die täglichen Fallzahlen hoch oder steigen, dann reichen die Maßnahmen nicht aus, ganz nach dem Motto: Viel hilft viel. Allerdings gibt es keinen evidenten Zusammenhang zwischen Maßnahmendichte und Abnahme von Fällen. Betrachtet man die Entwicklung der Reproduktionszahl in anderen Ländern, deren Maßnahmen sich von denen der deutschen Regierung unterscheiden (und nach dem deutschen Verständnis als viel weniger zu werten sind), dann zeigt sich eine merkwürdige Ähnlichkeit: Abbildung 4 zeigt die Reproduktionszahl für Deutschland (rot), Schweden (grün) und die USA (blau). Von dieser Grafik her könnte ich nicht entscheiden, in welchem Land die Situation besser ist. Es spricht einiges dafür, dass entweder sehr unterschiedliche Maßnahmen zu sehr ähnlichen Effekten führen, oder – und das erscheint mir persönlich immer wahrscheinlicher, je mehr ich mich mit den Daten beschäftige – dass keinen Zusammenhang zwischen der Ausbreitung des Virus und den spezifischen politischen Gegenmaßnahmen besteht.
Der entscheidende Punkt aber ist, dass die Fallzahlen keinen Aufschluss über die eigentliche Belastung des Gesundheitssystems geben. In den letzten Monaten haben wir steigende Fallzahlen mit einer sinkenden Hospitalisierungsrate erlebt. Für den Zeitraum, für den die Daten der COVID-19-Patienten vorliegen, gibt es sogar eine negative Korrelation, d. h. statistisch gesehen führen mehr Fälle zu weniger belegten Krankenhausbetten (Ro = 0.6, p = 0.0). Das ergibt natürlich überhaupt keinen Sinn und zeigt einfach nur, dass kein Kausalzusammenhang zwischen den Daten existiert. Offenbar folgen die Daten einem unterschiedlichen Trend: Betrachtet man die tägliche Differenz (Veränderung zum Vortag) werden diese Trends statistisch entfernt. Dann verschwindet aber auch jede Korrelation (Ro = 0.14, p = 0.14). Die Statistik bestätigt also, was das bloße Auge auch schon gesehen hat: Ein Zusammenhang zwischen Fallzahlen und der Belastung des Gesundheitssystems ist nicht ersichtlich.
Die Geschichte hat allerdings noch mehr Risse: Gerade, wenn man annimmt, dass die Maßnahmen gewirkt haben, gibt es überhaupt keinen Anlass für eine weiter Sorge. Denn bereits ohne den so genannten Lockdown hatten wir eine Reproduktionszahl von 0,88. Im Laufe der Zeit sank diese Zahl sogar auf 0,6 (und zwar am 23.06.2020 als schon längst wieder einige Lockerungen in Kraft waren). Wer an die Wirksamkeit der Maßnahmen glaubt, müsste also davon ausgehen, dass diese Situation mit den gleichen (moderaten) Maßnahmen reproduzierbar ist. Abbildung 5 zeigt, wie sich die Pandemie in Deutschland nach dem SEIR-Modell entwickeln würde, wenn wir von den derzeit ca. 1.000 Neuinfektionen pro Tag und einem R von 0,88 ausgehen und dies dann nach 50 Tagen noch einmal auf 0,6 drücken (also der Stand vor dem Lockdown und zur Sicherheit dann noch einmal die gleichen Maßnahmen, die im Juni so gut gewirkt haben).
Quelle: http://gabgoh.github.io/COVID/index.htmlWenn die Maßnahmen gewirkt haben, werden sie auch wieder wirken. Basierend auf dem SEIR-Modell bedeutet dies, dass wir mit nicht mehr als 417 COVID-19-Patienten in den Krankenhäusern rechnen müssen. Eine evidenzbasierte Politik müsste eingestehen, dass sich für die Geschichte, nach der COVID-19 das Gesundheitssystem in Deutschland bedroht, keine Evidenz nachweisen lässt.
Die Fortschreibung der Geschichte als Glaubensfrage
In Deutschland gibt es die Bestrebung, keine Kritik an der Regierungslinie zuzulassen. Das hat mehrere, gut nachvollziehbare Gründe: 1) Solange man der Geschichte glaubt, dass die Pandemie das Gesundheitssystem implodieren lässt, ist es wichtig, die Menschen dazu zu bringen, sich an die Eindämmungsmaßnahmen zu halten (Social Distancing, AHA-Regel usw.). Der deutsche Weg setzt also auf Abschreckung (siehe https://fragdenstaat.de/blog/2020/04/01/strategiepapier-des-innenministeriums-corona-szenarien/). Zweifel an den Maßnahmen sollen nicht aufkommen, weil dadurch die Moral im Kampf gegen das Virus untergraben würde. 2) Die meisten Kritiker sind weit davon entfernt, ihre Kritik auf einen evidenzbasierten Ansatz zu gründen. Hier sammeln sich Verschwörungstheoretiker*innen, Impfgegner*innen, Esoteriker*innen und zunehmend Rechtsradikale, die die Situation alle für eigene Interessen nutzen wollen. 3) Es ist immer schwer für Politiker, einen Kurswechsel zu vollziehen, besonders wenn im nächsten Jahr die große Wahl ansteht und sich diverse Personen profilieren wollen und müssen. Gerade der bayerische Ministerpräsident Söder stellt sich gerne als Corona-Hardliner dar, obwohl in keinem anderem Bundesland die Fallzahlen so hoch sind wie in Bayern (vergleiche https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/08/warum-bayern-kein-vorbild-in-der.html).
Es ist also nachvollziehbar, dass es der Politik schwerfällt, die alte Geschichte aufzugeben und zurück zu einer evidenzbasierten Politik zu kommen.
Stattdessen wird besonders in der interessierten Öffentlichkeit wild spekuliert, warum die Daten etwas anderes zeigen, als das was man erwartet hat. Dabei ist der Ausgangspunkt immer die interessierte Sichtweise, dass der deutsche Weg und seine Maßnahmen unumstößlich sind. Jeder Hinweis auf die Risse in der Geschichte wird als Anlass genommen, die ursprüngliche Theorie zu verteidigen. Das Muster ist dabei immer das gleiche: Es werden rein spekulative Zusatzerklärungen aufgestellt, die empirisch nicht zu belegen sind. Unter diesem Dogma ist es unmöglich zu beweisen, dass die Ursprungstheorie verkehrt ist. Es ist eine Umkehrung der Beweislast, die den Kritikern der Politik entgegenschlägt. Ein paar Beispiele dazu:
Als auffiel, dass die Reproduktionszahl schon vor dem Lockdown unter 1 gesunken war (also nach der eigentlichen Argumentation der Bundeskanzlerin der Lockdown überflüssig wurde, weil die Belastung des Gesundheitssystems ja ab- und nicht zunahm), wurde einfach behauptet, die Maßnahmen hätten gewirkt und die Bürger*innen hätten den Lockdown bereits antizipiert. Dieser Logik folgend, würde allerdings ein freiwilliges Verhalten ausreichen, um das Gesundheitssystem zu schützen und es bestünde kein Bedarf für eine politische Beschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte. (vgl. https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/04/die-reproduktionszahl-r-verstehen-und.html).
Auf die Frage, wieso die Reproduktionszahl nach dem Lockdown nicht weiter gesunken ist, wurde zunächst darauf verwiesen, dass es vermehrt zu Ausbrüchen in Altersheimen gekommen wäre. Diese seien eben durch die Kontaktbeschränkung nicht zu verhindern. Zuvor hatte man allerdings immer argumentiert, die Kontaktbeschränkungen sollten insbesondere die Risikogruppen der älteren Bürger*innen schützen. Merkel appellierte in ihrer Rede vom 15.04. ausdrücklich an die Solidarität den Älteren gegenüber. Gemessen an diesem Ziel haben die Maßnahmen also offenbar nicht gewirkt. Es lässt sich natürlich immer vortrefflich spekulieren, dass ohne die Maßnahmen alles noch viel schlimmer gekommen wäre. Allerdings erschöpft sich diese Annahme in der reinen Spekulation.
Eine weitere Annahme lautete, die Fallzahlen seien nach dem Lockdown aufgrund vermehrter Tests gestiegen (eine Erklärung die während des erneuten Anstiegs der Fallzahlen im Sommer nicht mehr zugelassen wurde, weil sie da nicht in die Geschichte passte). Die RKI Statistiken zeigen jedoch, dass die Anzahl der Tests im relevanten Zeitraum gleichgeblieben ist. Das RKI zog das Argument mit der Zunahme der Tests unkommentiert zurück und veränderte die relevante Publikation nachträglich (vgl. https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/04/die-reproduktionszahl-r-verstehen-und.html).
Christian Drosten hingegen nahm die Teststatistiken zum Anlass, um eine wilde Theorie aufzustellen: Die Statistik der Reproduktionszahl hätte sich den Anstieg der Tests vor dem Lockdown (!) irgendwie gemerkt (?) und deshalb den R-Wert nach dem Lockdown zu hoch berechnet. Auch diese Theorie lässt sich in keiner Weise belegen (vgl. https://politicaldatascience.blogspot.com/2020/04/die-reproduktionszahl-r-verstehen-und.html).
Auf die deutlich sichtbare Entkopplung der Fallzahlen von der Hospitalisierungsrate sowie den nachgewiesenen Todesfällen gab es die Entgegnung, es handle sich bei den neuen Fällen um Reiserückkehrer, die eher jung und gesund seien und deshalb milde Verläufe hätten. Trifft diese Vermutung zu, dann bleibt die Ableitung politischer Maßnahmen aus den Fallzahlen falsch: Die Feststellung lautet ja gerade, dass diese Infiziertengruppe keine Belastung für das Gesundheitssystem darstellen. Deshalb wird an dieser Stelle ein weiteres Hilfsargument bemüht: Die Jungen werden die Alten in Zukunft anstecken und dann steigen auch die Todeszahlen wieder an. Dieser Effekt ist bisher jedoch nicht eingetreten und auch rein spekulativ.
Wenn sprichwörtlich „ständig ein neues Kaninchen aus dem Hut gezaubert wird“, lässt sich keine vernünftige politische Debatte über die Notwendigkeit von Maßnahmen führen: Dazu Thesen aufzustellen, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht belegbar – daher aber auch nicht widerlegbar – sind, ist nicht zielführend. Sowohl auf Seiten der Kritiker als auch der Verfechter der herrschenden Politik gerät die Debatte um eine vernünftige Politik in Corona-Zeiten, zunehmend zu einer Glaubensfrage.
Diese Entwicklung in der öffentlichen Debatte sehe ich als Wissenschaftler sehr kritisch, denn Wissenschaft lebt vom Zweifel und überwindet damit den Glauben. Gerade, weil vieles in Bezug auf COVID-19 nach wie vor unbekannt ist, ist es entscheidend, dass wir unsere bisherigen Theorien über den Umgang mit der Pandemie in Frage stellen können. Die Politik ist immer in der Situation, Entscheidungen unter den Bedingungen der Unwissenheit zu treffen. Eine Situation in der alle Folgen abschätzbar oder alle Annahmen belegt wären existiert nicht. Die These, COVID-19 könnte zu einer Überlastung des Gesundheitssystems führen, war vernünftig und es gab wissenschaftliche Erklärungen und empirische Belege. Heute sprechen die Daten aber eine andere Sprache: Allen früheren Prognosen zum Trotz kollabiert das Gesundheitssystem nicht. Aus den Fallzahlen sollten daher keine politischen Maßnahmen abgeleitet werden, die die Freiheitsrechte von Bürger*innen einschränken. Es stellt sich eher die Frage, ob überhaupt politischer Handlungsbedarf besteht: Wenn ja, was sind die Ziele, die eigentlich erreicht werden sollen?
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