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Wird wirklich alles gut? Das Gute und das Wahre bei Marx und Hegel

Wird wirklich alles gut? Die Idee des Wahren und des Guten in Hegels Logik

Die Waffe der Kritik

Es ist Sommer 1843, du sitzt mit deiner großen Liebe in Kreuznach und ihr wollt für den Kommunismus in Deutschland und gegen den bürgerlichen Staat kämpfen und müsst feststellen, es gibt bislang weder Deutschland noch den bürgerlichen Staat. Beides existiert nur als Idee. Die Frage ist: „Kann Deutschland zu einer Praxis à la hauteur des principes gelangen, d.h. zu einer Revolution, die es nicht nur auf das offizielle Niveau der modernen Völker erhebt, sondern auf die menschliche Höhe, welche die nächste Zukunft dieser Völker sein wird?“ (MEW 1a, 385) Das Problem ist aber, die eine Hälfte eurer potentiellen Mitstreiter will sich mit Ideen nicht auseinandersetzen und stattdessen lieber gleich zur revolutionären Praxis übergehen. Du rufst ihnen zu: „Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen.“ (MEW 1a, 384). Die andere Hälfte hingegen glaubt, „die Philosophie verwirklichen zu können, ohne sie aufzuheben.“ (MEW 1a, 384). Also setzt du dich hin und zerlegst die Hegelsche Rechtsphilosophie um zu einer revolutionären Theorie der Praxis zu gelangen. Dabei entsteht eine Hegel(Miss)Interpretation, die bis heute den Blick auf den spekulativen Idealismus prägt und in ihrer Konsequenz den Kommunismus verhindert.

Marx Kritik an Hegel basiert auf zwei Vorwürfen, die zusammenhängen: Hegel sieht fälschlicher Weise das Wahre in allem was ist (1: Hegels Objektivismus). Dadurch erscheint alles was wird als eine Bewegung zum Guten (2: Hegels Teleologie). Und deshalb ist der spekulative Idealismus eine Ideologie der Rechtfertigung der herrschenden Verhältnisse.

Der Vorwurf des falschen Objektivismus kulminiert in dem Satz: „Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment [Hegels].“ (MEW 1b, 216) Die Übergänge vom Allgemeinen zum Besonderen – im entsprechenden Abschnitt in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts der Übergang vom allgemeinen Interesse als Staatszweck zu den konkreten Notwendigkeiten der Staatsgewalt – sind bloß das: Übergänge vom Allgemeinen zum Besonderen. Sie sind nur wahr, insofern sie vom Standpunkt der Logik betrachtet werden, haben aber gar keine Wahrheit für sich. „Mit Auslassung der konkreten Bestimmungen, welche ebensogut für eine andere Sphäre, z.B. die Physik, mit anderen konkreten Bestimmungen vertauscht werden können, also unwesentlich sind, haben wir ein Kapitel der Logik vor uns.“ (MEW 1b, 217)

Die Teleologie verdankt sich dieser Subsumtion der konkreten Bestimmungen unter ihre logischen Übergänge. In der Rechtsphilosophie wird nicht der Staat mit seinen konkreten Notwendigkeiten entwickelt, was eine Phänomenologie des Staates wäre. Es wird auch nicht – was die Rechtsphilosophie eigentlich leisten sollte – die Idee des Staates entwickelt, dafür müssten die konkreten Notwendigkeiten aus dem allgemeinen Staatszweck tatsächlich abgeleitet werden. Stattdessen entwickelt Hegel die Idee von der Idee vom Staat also die logische Metaebene. Dadurch verschiebt sich auch das Subjekt auf die Ebene der Logik, so dass statt echten politischen Subjekten – eine herrschende Klasse und einem revolutionären Subjekt – nur der Weltgeist am Werke zu sein scheint. „Wichtig ist, daß Hegel überall die Idee zum Subjekt macht und das eigentliche, wirkliche Subjekt, wie die »politische Gesinnung«, zum Prädikat.“ (MEW1b, 209) „Wenn aber die Idee versubjektiviert wird, werden hier die wirklichen Subjekte, bürgerliche Gesellschaft, Familie, »Umstände, Willkür etc.« zu unwirklichen, anderes bedeutenden, objektiven Momenten der Idee.“ (MEW 1b, 206).

Das Problem einer Hegelinterpretation, die ihren Standpunkt aus der Marxschen Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie bezieht, ist allerdings, dass dadurch der Fehler, den Marx Hegel bei der Staatsableitung zu Recht ankreidet, einfach umgebogen und nun dem spekulativen Idealismus in seiner Gänze untergeschoben wird. Der allgemeine Hegel macht die Sache der Logik anstelle der Logik der Sache zum philosophischen Moment und versubjektiviert die Idee. Die gesamte Hegelsche Methode erscheint nun „mystifiziert“. „Für Hegel ist der Denkprozeß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte Materielle. […] In ihrer mystifizierten Form ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien.“ (MEW 23, 27) 

Wenn aber das Ideelle im Menschenkopf umgesetztes Materielles ist, dann ist der Denkprozess genau das Subjekt, was dieses umgesetzte Materielle bewegt. Der blinde Fleck der marxistischen Hegelkritik besteht darin, dass ein Bereich explizit und notwendig aus der Kritik herausfällt: Die Logik selbst. Die Sache der Logik zur Logik der Sache zu erklären, ist genau richtig, wenn die Sache nun mal die Logik ist. Und das die Idee – und nicht etwa das Materielle – das Subjekt der logischen Bewegung ist, ist eine Notwendigkeit für jeden Versuch, am Primat der Folgerichtigkeit (auch nach Kant) festzuhalten. Daher ist auch die Idee der Idee keine Metaebene sondern der Kern der Wissenschaft der Logik. Solange der Marxismus (oder jede andere Wissenschaft) Wahrheit und Objektivität beansprucht, bleibt Hegel ein Schatten, der sich nicht abschütteln lässt.

Wenn Marx hervorhebt: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil.“ (MEW 23, 27), dann begibt er sich auf Hegels Spielfeld. Denn Logik ist die Methode per se. „Sie ist selbst der reine Begriff, der sich zum Gegenstand hat und der, indem er sich als Gegenstand [habend] die Totalität seiner Bestimmungen durchläuft, sich zum Ganzen seiner Realität, zum Systeme der Wissenschaft ausbildet und damit schließt, dies Begreifen seiner selbst zu erfassen, somit seine Stellung als Inhalt und Gegenstand aufzuheben und den Begriff der Wissenschaft zu erkennen.“ (Logik 2, 572)

Die Frage muss also sein, wie es auf dem Feld der Logik selbst aussieht: Ist es so, dass (für Hegel, aber vor allem an und für sich) alles was ist, wahr ist und alles was wird gut wird?

Die Idee der Idee

„Die Idee ist der adäquate Begriff, das objektive Wahre oder das Wahre als solches.“ (Logik 2, 462)

Die Idee ist nicht ein Ziel, dem man sich nur annähern kann, sondern alles Wirkliche ist nur, insofern es die Idee in sich hat und ausdrückt. „Der Gegenstand, die objektive und subjektive Welt überhaupt sollen mit der Idee nicht bloß kongruieren, sondern sie sind selbst die Kongruenz des Begriffs und der Realität; diejenige Realität, welche dem Begriffe nicht entspricht, ist bloße Erscheinung, das Subjektive, Zufällige, Willkürliche, das nicht die Wahrheit ist.“ (Logik 2, 464)

Die Idee ist also keine abstrakte Vorstellung, die mit der Realität übereinstimmen soll. Stattdessen sind die objektive und die subjektive Welt die Übereinstimmung mit der Idee, dies ist ihre Objektivität. Damit ist aber gerade nicht gesagt, das die Realität mit der Idee automatisch übereinstimmt. Weil Realität und Idee eine Identität haben, gibt es einen Unterschied zwischen ihnen. Denn die Dinge, wie sie in der Realität sind, sind dem Prozess von Werden und Vergehen unterworfen: sie sind endlich. Dadurch entsteht eine Lücke. So wie der Begriff in der Welt erscheint, ist er Erscheinung, also das  unwahre Sein. „Daß die wirklichen Dinge mit der Idee nicht kongruieren, ist die Seite ihrer Endlichkeit, Unwahrheit […]. Daß die Idee ihre Realität nicht vollkommen durchgearbeitet, sie unvollständig dem Begriffe unterworfen hat, davon beruht die Möglichkeit darauf, daß sie, so wesentlich sie Einheit des Begriffs und der Realität ist, ebenso wesentlich auch deren Unterschied ist […].“ (465)

So kommen wir zurück zum Sollen. Allerdings hat sich jetzt – in der Tat – das Subjekt geändert. Die Realität soll der Idee entsprechen und es ist die Idee, die erstere „durcharbeitet“ und „unterwirft“. Die Realität hat eine Objektivität, sie ist, was sie ist. Gleichzeitig ist sie damit aber nicht ihr Begriff, sie ist unwahr und entspricht sich nicht. Sie ist nicht auf sich bezogen. Die Objektivität hat keine Handlungsmacht – sie hat kein Subjekt unmittelbar an sich. Objektiv – also mehr als bloße Erscheinung – ist die Realität nur, insofern sie durch den Begriff gesetzt ist. Die Idee als adäquater Begriff ist daher das setzende Subjekt der Objektivität. Oder anders gesagt: Die Realität erzeugt keine Wahrheit. Das Wahre als solches ist getrennt von der Realität gesetzt. Die Idee hingegen ist „einfach und immateriell, denn die Äußerlichkeit ist nur als durch den Begriff bestimmt und in seine negative Einheit aufgenommen“ (467). Die Idee ist Selbstzweck und Trieb. Das Materielle der Idee besteht einzig und allein in einem Werden, welches aber gar nicht an der Idee sondern nur an der Realität festzumachen ist. 

Aus diesem Verhältnis von Realität und Idee folgt nicht nur, dass die Idee das Subjekt der Objektivität ist. „Sie ist als diese Beziehung der Prozeß, sich in die Individualität und in deren unorganische Natur zu dirimieren und wieder diese unter die Gewalt des Subjekts zurückzubringen und zu dieser einfachen Allgemeinheit zurückzukehren.“ (Logik 2, 467) Was die Kritiker, die Hegel eine starre Teleologie vorwerfen, übersehen, ist, dass die Idee als Selbstzweck und Trieb weder mit sich noch mit der Wirklichkeit jemals fertig ist. Sie ist ein nicht endender Prozess der Selbstnegation. Nichts ist daher unzutreffender, als in Bezug auf Hegel das „Ende der Geschichte“ auszurufen. „Die Identität der Idee mit sich selbst ist eins mit dem Prozesse; der Gedanke, der die Wirklichkeit von dem Scheine der zwecklosen Veränderlichkeit befreit und zur Idee verklärt, muß diese Wahrheit der Wirklichkeit nicht als die tote Ruhe, als ein bloßes Bild, matt, ohne Trieb und Bewegung, als einen Genius oder Zahl oder einen abstrakten Gedanken vorstellen; die Idee hat um der Freiheit willen, die der Begriff in ihr erreicht, auch den härtesten Gegensatz in sich; ihre Ruhe besteht in der Sicherheit und Gewißheit, womit sie ihn ewig erzeugt und ewig überwindet und in ihm mit sich selbst zusammengeht.“ (Logik 2, 467-468)

Die Idee als Subjekt heißt nicht, dass das Werden der Wirklichkeit einem göttlichen Plan folgt, oder dass die abstrakte Bestimmung, so sie objektiv ist, das letzte Wort wäre. Im Gegenteil: Die Idee überwindet sich selbst. Sie ist Wahrheit als Prozess, weil Wahrheit der Gedanke in Bewegung ist. Nur die Idee kann das Subjekt ihrer Selbstüberwindung sein, weil sie in ihrer Gänze auf sich zurückbezogen ist. Wenn die Welt der Idee nicht entspricht, ficht das die Idee nicht an. Es ist das Endliche und Unwahre in der Welt, was den Unterschied zur Idee ausmacht. Kaum ist aber erkannt, worin das Unwahre besteht, wird es Teil der Idee. Die Idee bekommt eine weitere Bestimmung, warum die Welt ihr nicht entspricht und zieht damit diesen Unterschied in sich. Der härteste Gegensatz ist, dass es die absolute Wahrheit eben nicht fertig in einer Schublade gibt, sondern nur als die permanente Negation dessen, was ist.

„Indessen ist das gerade wieder der Vorzug der neuen Richtung, daß wir nicht dogmatisch die Welt antizipieren, sondern erst aus der Kritik der alten Welt die neue finden wollen. Bisher hatten die Philosophen die Auflösung aller Rätsel in ihrem Pulte liegen, und die dumme exoterische Welt hatte nur das Maul aufzusperren, damit ihr die gebratenen Tauben der absoluten Wissenschaft in den Mund flogen. […] Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden, rücksichtslos sowohl in dem Sinne, daß die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet und ebensowenig vor dem Konflikte mit den vorhandenen Mächten.“ (MEW 1a, 344)

Die Idee des Wahren

Die Idee des Wahren ist die Tätigkeit der Idee als Idee. Die beschriebene Identität von Idee und Realität mit dem Unterschied, der durch das Werden und Vergehen entsteht, macht zunächst das Individuum zum Träger der Idee, insofern die Idee das Leben ist. Damit fällt die Idee aber zunächst zurück in etwas Subjektives. Erst durch die Betrachtung des Lebens vom Standpunkt der „Gattung“ erreicht die Idee die Objektivität der Wahrheit. Das Leben ist im Individuum. Der Lebensprozess ist  die bestimmte Negation des Individuums und damit auch der Idee. Die Gattung ist die Negation dieser Negation. „Das Individuum ist daher an sich zwar Gattung, aber es ist die Gattung nicht für sich; was für es ist, ist nur erst ein anderes lebendiges Individuum; der von sich unterschiedene Begriff hat zum Gegenstande, mit dem er identisch ist, nicht sich als Begriff, sondern einen Begriff, der als Lebendiges zugleich äußerliche Objektivität für ihn hat, eine Form, die daher unmittelbar gegenseitig ist.“ (485) Die Gattung ist „die Individualität des Lebens selbst, nicht mehr aus seinem Begriffe, sondern aus der wirklichen Idee erzeugt.“ (485) Damit ist die Idee als das Wahre gesetzt, fällt aber in zwei Extreme: Das eine Extrem ist der Schluss des Begriffs, also die individuelle Leistung, die Wahrheit in der Welt aufzuzeigen. Das andere Extrem ist aber die Schranke des Subjektiven: Die objektive Welt. Das Erkennen ist die Mitte dieser beiden Extreme. Wir erkennen die Wahrheit als Individuen und erkennen die Unwahrheit in der Welt. Die Idee ist zunächst selbst theoretisch als „das Verhältnis des Begriffsurteils, welches als das formelle Urteil der Wahrheit sich gezeigt hat“ (499). Die klassische Logik beschäftigt sich nun mit den analytischen und synthetischen Urteilen und ihren Formen. Dass das objektive Denken kein leichtes aber dennoch aussichtsreiches Unterfangen ist, ist nicht nur von Marxisten und Hegelianern geteilt, sondern bildet den Kern jedes wissenschaftlichen Denkens. Wissenschaft ist der Trieb zur Wahrheit, der Versuch, die Wahrheit im Begriffsurteil zu erkennen. Was dabei aber häufig übersehen wird, für Hegel aber offensichtlich war, ist, dass die Objektivität im Denken den Widerspruch zwischen der Wahrheit im Geiste und der Unwahrheit und bloßen Erscheinung in der Welt nicht auflöst. Der Begriff mag die Notwendigkeit erfassen. Er bleibt aber theoretisch. Die Trennung von Objektivität und Realität ist eben nicht alleine durch das Denken aufzuheben. „Die Idee, insofern der Begriff nun für sich der an und für sich bestimmte ist, ist die praktische Idee, das Handeln.“ (541) Oder, um es mit Marx zu sagen: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt“ (MEW 1a, 385).

Die Idee des Guten

„In der praktischen Idee aber steht er [der Begriff] als Wirkliches dem Wirklichen gegenüber; die Gewißheit seiner selbst, die das Subjekt in seinem An-und-für-sich-Bestimmtsein hat, ist aber eine Gewißheit seiner Wirklichkeit und der Unwirklichkeit der Welt; nicht nur das Anderssein derselben als abstrakte Allgemeinheit ist ihm das Nichtige, sondern deren Einzelheit und die Bestimmungen ihrer Einzelheit. […] Diese in dem Begriffe enthaltene, ihm gleiche und die Forderung der einzelnen äußerlichen Wirklichkeit in sich schließende Bestimmtheit ist das Gute.“ (542) So wie die Idee theoretisch der Trieb zur Wahrheit ist, so ist sie praktisch der Trieb zum Guten. Die Wirklichkeit hat sich der Objektivität der Idee zu beugen. Das Gute ist der Prozess, dem wahren Gedanken Wirklichkeit zu geben. Und wie schon der Prozess zur Wahrheit ist die Bewegung zum Guten, obwohl einerseits absolut wiederum von diesem „härtesten Gegensatz“ bestimmt. Denn kaum verwirklicht sich das Gute, bekommt es eine Materialität, die seinem Begriff äußerlich ist. „Das ausgeführte Gute ist gut durch das, was es schon im subjektiven Zweck, in einer Idee ist; die Ausführung gibt ihm ein äußerliches Dasein; aber da dies Dasein nur bestimmt ist als die an und für sich nichtige Äußerlichkeit, so hat das Gute in ihr nur ein zufälliges, zerstörbares Dasein, nicht eine seiner Idee entsprechende Ausführung erreicht. - Ferner, da es seinem Inhalte nach ein Beschränktes ist, so gibt es auch des Guten mehrerlei; das existierende Gute ist nicht nur der Zerstörung durch äußerliche Zufälligkeit und durch das Böse unterworfen, sondern durch die Kollision und den Widerstreit des Guten selbst. […] Das Gute bleibt so ein Sollen; es ist an und für sich, aber das Sein als die letzte, abstrakte Unmittelbarkeit bleibt gegen dasselbe auch als ein Nichtsein bestimmt. Die Idee des vollendeten Guten ist zwar ein absolutes Postulat, aber mehr nicht als ein Postulat“ (544).

Die Idee als revolutionäres Subjekt

Hegel konsequent - und vielleicht konsequenter als von ihm selbst - gedacht, eignet sich somit in keiner Weise, um bestehende Verhältnisse zu rechtfertigen. Weder ist das, was wir vorfinden, per se wahr, nur weil sich der Begriff der Sache in ihm aufzeigen lässt. Noch gibt es eine teleologische Bewegung hin zum vollendetem Guten. Der Weltgeist wird gar nichts richten. Dass die Wahrheit mit der Wirklichkeit versöhnt wird, ist Resultat des Handelns. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Alleine durch das Denken wird noch gar nichts gut. Und nichts, was ist, ist wahr. 

Es ist eine der großen Leistungen Ẑiẑeks, Hegels Idealismus mit der Dimension der Zeit zusammenzubringen; mit einer absoluten Vergangenheit, die unveränderlich ist und in der Gegenwart mit jedem Moment neu geschrieben wird; und mit einer Zukunft, die ihre Wahrheit dadurch erhält, dass wir spekulative Ideen materialisieren (Ẑiẑek 2014, 286ff.). Die Vergangenheit ist unwahr. Sie war nicht im Einklang mit der Idee und musste überwunden werden. Vom Standpunkt ihrer Überwindung ist die Vergangenheit gut, weil sie ihrem Untergang zugeführt wurde. Im Bestehenden ist die Idee das einzig Wahre. Die Gegenwart ist nicht gut. Gut ist nur das Handeln, dass die Idee voranbringt. Die Zukunft ist offen, weder wahr noch gut, weil sie durch das Handeln gestaltet werden muss. Es gibt keine Garantie, dass die Zukunft die Unwahrheit der Gegenwart überwindet. Sofern die Zukunft aber die Überwindung der Gegenwart ist, ist die Gegenwart gut und die Zukunft wahr.

Es gibt also keine automatische Entwicklung und keine Phase, die – wenn sie gedanklich überwunden wurde – nicht auch praktisch übersprungen werden kann. Marx hat also völlig recht, wenn er sich in Kreuznach bereits an die Überwindung des bürgerlichen Vernunftstaates macht, obwohl es diesen noch gar nicht gibt. Ebenso tut Lenin Gutes, wenn er sich nicht darum schert, dass es den Kapitalismus, den er überwinden will in Russland gar nicht gibt. Das Gute ist das Handeln im Sinne der objektiven spekulativen Idee.

Aber wer ist das Subjekt dieser Bewegung hin zum Guten? Die Marxisten sehen letzten Endes die Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt, also als Agent des Guten. Dies zeigt sich auch in dem Marx-Zitat zur Waffe der Kritik:

„Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem |am Menschen| demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“ (MEW 1a, 385) Diese Überlegung ist aus mehren Gründen zunächst einleuchtend: Es ist die Arbeiterklasse, die den Kapitalismus und damit die Herrschaft über sie reproduziert. Eine Arbeiterklasse im wahrsten Sinne des Wortes für sich ist die ultimative Kraft des Guten. Nur, wie kommt die Arbeiterklasse zu dem nötigen Bewusstsein? Wie kommt die Idee zur Klasse und nicht zu vereinzelten Individuen. Die Fähigkeit einer Theorie, die Massen zu ergreifen ist ja erst die Möglichkeit aber selbst nicht die revolutionäre Praxis. Gerade in der marxistischen Idee steckt da ein großes Problem: Denn schließlich ist es ja das Sein, dass das Bewusstsein bestimmt. Das Sein ist aber eben der Kapitalismus. Die politische Antwort auf dieses Dilemma war der Aufbau von Kaderorganisationen. Die Idee wird getrennt von den Massen. Die Kader durchblicken die Verhältnisse und sehen das Unwahre in ihnen. Die Revolution kann dann aber nur das Werk der Arbeiter sein. Die praktische Idee, das Handeln, das Gute, ist also institutionell getrennt vom Wahren. Und das hat Konsequenzen. Zwar geht es natürlich darum, in der Agitation die Massen zu überzeugen. Aber eben auch nur um sie zum Handeln zu bewegen. Die Theorie wird in der Agitation ad hominem demonstriert, aber eben auch nur demonstriert. Sie ist als Idee nicht bei den Menschen. Diese Trennung des Wahren und des Guten ist im Stalinismus perfektioniert. Die Partei hat die Herrschaft über die Wahrheit und die Massen werden gezwungen, ihr Handeln an dieser Wahrheit auszurichten. Ihre Aufgabe ist es, Gutes zu tun und die Idee der Partei zu verwirklichen. Diese institutionelle Trennung macht allerdings die Wahrheit unwahr und das Gute böse. Denn die Idee, die rein theoretisch bleibt, die nicht selbst die Lebenswirklichkeit durcharbeitet, bleibt in dem Widerspruch verhaftet, das Unwahre im Sein zwar aufzeigen zu können aber selbst kein wahres Sein hervorzubringen. Und auf der anderen Seite, der Anspruch Gutes zu tun ohne dass dieses Handeln selbst theoretisch durchdrungen ist, ist eine Perversion der Idee. Der härteste Gegensatz schlägt hier gegen beide Seiten durch. Das vermeintlich Wahre ist nicht wahr und das vermeintlich Gute ist nicht gut. 

Dieser Widerspruch durchzieht jede realexistierende Form der Kaderorganisation schon lange bevor ein sozialistischer Herrschaftsapparat aufgebaut wird. Das Leben der Menschen kommt in der Theorie nicht wirklich vor schon weil die Mannigfaltigkeit der realen Verhältnisse in der Theorie nicht vollständig aufgehoben werden können und die Theorie die Verhältnisse in einem Urteil über sie erfasst. Und umgekehrt kommt die Theorie in der Lebenswirklichkeit nie vor, weil sie bei den Massen bestenfalls rudimentär vermittelt ist und bei den Kadern die Lebenswirklichkeit, die sie aufheben wollen, nur im Ansatz gegeben ist.

Es ist dies der Grund, warum die Arbeiterklasse nicht das revolutionäre Subjekt ist, nie war und auch nie sein wird.

Marx hat selbst den Hinweis zur Auflösung dieses Widerspruchs gelegt, wenn er in der Deutschen Ideologie schreibt: „Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.“ (MEW 3, 26) Der Slogan: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein!“ sollte nicht so verstanden werden, dass das Sein eine Schranke des Bewusstseins wäre; dass die Massen, da sie doch im System gefangen sind, nicht die eigentlichen Träger der Idee sein können. Vielmehr ist es eine Banalität, dass das Bewusstsein eben das bewusste Sein ist. Jedes Individuum kann Träger der wahren revolutionären Idee sein. Ihre finale Objektivität besteht darin, dass die Idee in praktisches Handeln umgesetzt wird. Und zwar in den wirklichen Lebensprozessen.  Das Gute sticht das Wahre, ersteres ist die höhere Form der Objektivität, weil nur durch das Handeln das Unwahre überwunden wird. Das Gute selbst ist aber so widersprüchlich, wie es die wirklichen Lebensprozesse sind. Es folgt nicht aus der einen wahren Idee das eine Gute. Es braucht also den Prozess, jedoch nicht so, dass das Gute sich am Wahren zu relativieren hätte, sondern dass das Wahre sich weiterentwickelt in dem Maße, wie wir die Welt zum Guten verändern. Deshalb ist die Idee das revolutionäre Subjekt. Sie sucht sich ihre Träger und arbeitet deren Köpfe durch bis sie die Wirklichkeit durcharbeiten.

Literatur

Hegel, G.W.F (Logik 2), Wissenschaft der Logik, Werke 6, Suhrkamp, Frankfurt am Main.

Marx, Karl (MEW 1a), 1972, Zur Kritik der Hegelschen Rechtshilosophie, Dietz, Berlin.

Marx, Karl (MEW 1b), 1972, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, Dietz, Berlin.

Marx, Karl (MEW 3), 1972, Die Deutsche Ideologie, Dietz, Berlin.

Marx, Karl (MEW 23), Das Kapital, Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Der Produktionsprozess des Kapitals, Dietz, Berlin.

Ẑiẑek, Slavoj (2014), Weniger als nichts, Hegel und der Schatten des dialektischen Materialismus, Suhrkamp, Frankfurt am Main.


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Zitieren als:

Hegelich, S, 2021, Wird wirklich alles gut? Die Idee des Wahren und des Guten in Hegels Logik, https://politicaldatascience.blogspot.com/2021/05/wird-wirklich-alles-gut-das-gute-und.html.


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