Bayern nimmt in Deutschland eine besondere Stellung ein, was die COVID-19-Maßnahmen anbelangt. Gerade wird wieder mächtig verschärft mit höheren Busgeldern, mehr Kontrollen und regionalem Alkoholverbot. Viele Schritte, wie zum Beispiel die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen gingen in Bayern über das hinaus, was andere Bundesländer verordneten. Auch bei der Durchsetzung gilt Bayern als „härter“ als andere Bundesländer. „Bis Anfang August wurden bayernweit gegen 58.282 Betroffene 64.143 Anzeigenvorgänge zu Ordnungswidrigkeiten und Straftaten gemäß dem Infektionsschutzgesetz erfasst.“ (Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Bayern) Zum Vergleich Berlin: Laut Tagesspiegel gab es Ende Juni ca. 3.000 COVID-spezifische Ordnungswidrigkeiten, von denen aber nur ca. 600 verfolgt wurden (https://www.tagesspiegel.de/berlin/berliner-ordnungsaemter-kommen-nicht-hinterher-tausende-corona-verstoesse-aber-kaum-einer-muss-bussgeld-zahlen/25954676.html). Berlin gilt als laxer im Umgang. Die Atmosphäre ist definitiv eine völlig andere. Es gab Demonstrationen und Raves. Wer im Späti eine Maske trägt, wird in der Regel ausgelacht. Berlin als Großstadt, wo ja doch alle recht eng aufeinander hängen, sollte also eigentlich wesentlich schlechter dastehen als Bayern.
Auch die Rhetorik ist definitiv eine andere in Bayern. Bayerns Innenminister Hermann rief die Bevölkerung explizit auf, Nachbarn, die gegen die Maßnahmen verstoßen bei der Polizei zu melden, wenn sie nicht einsichtig sind (https://www.br.de/nachrichten/bayern/corona-herrmann-raet-dringend-von-ausfluegen-ab,RuPmgtn). Ministerpräsident Söder hat sich einen Ruf als Hardliner und Krisenmanager erarbeitet, offenbar nicht zuletzt, um seine Chancen auf eine Kanzlerkandidatur zu steigern (https://www.tagesspiegel.de/wissen/machtspiele-und-schaulaufen-soeder-profiliert-sich-in-der-coronakrise-zum-aerger-der-anderen-ministerpraesidenten/25673766.html).
Was sagen die Zahlen zu Berlin und Bayern?
Bayern hat konstant deutlich mehr Fälle pro 100.000 Einwohner als Berlin. Derzeit sind es 424 in Bayern und 288 in Berlin. Nur auf die letzten siebe Tage gerechnet waren es 14 in Bayern und 11,1 in Berlin (https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-08-25-de.pdf?__blob=publicationFile). Bayern ist sogar das Bundesland mit den meisten Fällen pro 100.000 Einwohnern überhaupt. Mit 20,1 Todesfällen pro 100.000 Einwohner ist Bayern auch hier trauriger Spitzenreiter (Berlin 6,0). Das ist einerseits logisch, weil es ja auch die meisten Fälle in Bayern gibt. Nur: Auch wenn man das Verhältnis betrachtet, schneidet Bayern schlecht ab. Die 20,1 Tote auf 100.000 Einwohner sind 4,7% der Infizierten. In Berlin sterben „nur“ 2% der Infizierten.
Bayern hatte zu Beginn der Pandemie natürlich mehr Fälle. In Berlin hat es im Juni einen deutlichen Anstieg gegeben, während die täglichen Fälle in Bayern erst deutlich runter gehen und dann in etwa auf dem Berliner Niveau bleiben (natürlich bei ca. 3,5 mal mehr Einwohnern).
Die Grafik zeigt die Fallzahlen über die Zeit: Berlin rot, Bayern hellblau.
Ich kann der Grafik nicht entnehmen, dass Bayern besser dasteht als Berlin. Natürlich sind die Zahlen in Bayern viel deutlicher zurückgegangen, aber sie sind eben auch – gerade in den letzten Wochen – wesentlich deutlicher gestiegen. Diese starke Dynamik würde man eigentlich intuitiv von einer Metropole wie Berlin erwarten.
Ein gutes Maß, um die Effektivität der Maßnahmen in Bayern und Berlin zu vergleichen, ist die Reproduktionszahl R, die anzeigt, wie viele neue Infektionen aus einer Infektion entstehen. Wenn die Maßnahmen in Bayern besser funktionieren als in Berlin, dann sollten sich weniger Leute pro Infizierten Anstecken.
Der Plot zeigt aber etwas anderes. Die Unterschiede zwischen Bayern und Berlin sind marginal. Im durchschnitt schneidet Berlin mit einem 7-Tage-R-Wert von 1.13 sogar ein kleines bisschen besser ab als Bayern mit 1.14. Die bayerischen Maßnahmen haben also nicht dazu beigetragen, dass eine infizierte Person weniger andere Personen ansteckt.
Warum steht Bayern so schlecht da?
In Bayern ist man schnell dabei, die Schuld bei anderen zu suchen. Theoretisch wäre es denkbar, dass die Maßnahmen eigentlich doch super gut gewirkt haben, aber lauter Infizierte aus Nicht-Bayern hereinkommen und die Bayern infizieren, bzw. die Bayern nach Berlin fahren und sich da anstecken. Ich halte das für sehr unwahrscheinlich. Gerade aufgrund der strengen Maßnahmen vermute ich, dass die Mobilität in Bayern stärker zurückgegangen ist, als in anderen Bundesländern. Wer meint, COVID-19 wird ständig nach Bayern eingeschleppt, möge dies bitte mit Daten belegen.
Mit dem, was sich inzwischen als Wissen über die Pandemie herauskristalisiert, kann man den bayrischen Weg allerdings auch sehr kritisch betrachten. Vielleicht hat Bayern ja mit diversen Fehlern in der Pandemiebekämpfung selbst schuld an dem schlechten Abschneiden.
Es fängt damit an, das Bayern sehr spät reagiert hat. Die bayerische Regierung hat bis nach der Kommunalwahl am 15.03. gewartet, bevor wirkliche Maßnahmen ergriffen wurden. Vielleicht ging es darum, dass man eine Verunsicherung der Bevölkerung um jeden Preis verhindern wollte, aus Angst, zu viele Leute würden AfD wählen, wenn die CSU die Biergärten schließt. Statt dessen schickte man die gesamte Wahlbevölkerung im Prinzip ungeschützt in die Wahllokale (einige Maßnahmen wurden getroffen, man sollte Abstand halten, es gab an einigen Orten zusätzliche Räume). Gehen wir davon aus, dass sich COVID-19 über Aerosole verbreitet, ist die Durchführung der Kommunalwahl als schwerer Fehler zu werten.
Generell stellt sich die Frage, ob #bleibtzuhause und dazu noch die bayerischen Ausgangsbeschränkungen so klug sind. Vom heutigen Stand des Wissens her würde man ja eher dazu raten, möglichst viel nach draußen zu gehen. In Bayern war es verboten, alleine auf einer Parkbank zu sitzen. Der Gang vor die Tür war nur aus triftigen Grund gestattet. Innenminister Hermann kam immer wieder in Erklärungsnöte, weil er den Leuten eigentlich noch viel mehr verbieten wollte als sein Gesetz wirklich zuließ, wie zum Beispiel den Ausflug in die Berge: "Es ist nicht der Sinn der Sache, wenn Leute zuhauf meinen, über 50 oder 100 Kilometer in die Berge fahren zu müssen. Da rate ich dringend davon ab", sagte der bayerische Innenminister Joachim Herrmann im Interview mit dem Bayerischen Rundfunk (
https://www.br.de/nachrichten/bayern/corona-herrmann-raet-dringend-von-ausfluegen-ab,RuPmgtn).
Wie die Grafik zeigt, ist das private Wohnumfeld der gefährlichste Ort. Inzwischen dicht gefolgt von der Arbeitsstätte. Ein wichtiges Infektionsumfeld sind auch medizinische Behandlungseinrichtungen. Es erschließt sich zunächst nicht, wie die bayerischen Ausgangsbeschränkungen an diesen Infektionsumfeldern etwas ändern, außer, dass die Menschen gerade auf genau diese Settings noch stärker festgelegt werden. Die RKI-Studie legt nahe, dass die Ansage zuhause zu bleiben – anstatt an die frische Luft zu gehen – sich kontraproduktiv ausgewirkt hat und vermutlich Leben gekostet hat.
Auch für die Genussfeindlichkeit, die in der bayerischen Rhetorik immer wieder mitschwingt, gibt es nur wenig Hinweise in den Daten, dass damit etwas erreicht wäre: Seit dem so genannten Lockdown (13. Kalenderwoche) spielt Freizeit als Infektionsumfeld keine Rolle mehr. Insofern scheinen diese Maßnahmen etwas bewirkt zu haben. Allerdings ist auch nach den Öffnungen Freizeit nicht das entscheidende Infektionsumfeld. Speisestätten, die jetzt in Bayern wieder auf Ansage Söders stärker kontrolliert werden, haben offenbar nie einen signifikanten Beitrag zum Infektionsgeschehen gehabt. Der Bereich Verkehrsmittel ist übrigens aus der Grafik rausgenommen, weil es laut RKI nur 90 Fälle gibt, die diesem Infektionsumfeld zuzuordnen sind – trotz später Einführung der Maskenpflicht.
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