Direkt zum Hauptbereich

#StatistikGegenRassismus: Kindergeld ins Ausland

In allen Medien wird derzeit berichtet, dass mehr Kindergeld für Kinder im Ausland gezahlt wird. Offen oder suggestiv wird dabei angedeutet, insbesondere die OsteuropäerInnen würden sich am deutschen Sozialsystem schadlos halten. Das Kindergeld wird nur an Personen gezahlt, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland haben, was eine Niederlassungs- oder entsprechende Aufenthaltserlaubnis voraussetzt. Steigt die Zahlung für Kinder im Ausland, dann bedeutet das ersteinmal nur, dass mehr Leute berechtigter Weise in Deutschland sind. Auffällig ist, dass man kaum an die wirkliche Quelle der Zahlen kommt, die momentan diskutiert werden. Nach einigem Suchen stellt man dann fest, dass einige der Zahlen einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der AfD entnommen sind. Daher stammt die Zahl, dass 343 Millionen Euro Kindergeld 2017 auf ausländische Konten geflossen sind. Statistisch gesehen stellt sich damit sofort die Frage nach der Validität: Ein Konto im Ausland ist nicht dasselbe wie Kindergeld für Kinder, die im Ausland leben.
Aus der selben Tabelle geht auch hervor, dass 35.555 Millionen Euro in 2017 auf deutsche Konten gezahlt wurden. Rechnen wir den Anteil der Zahlungen ins Ausland durch die Zahlungen insgesamt: 343:(35555+343)=0,0096. Es geht also nicht einmal um ein Prozent der Zahlungen.
Dann gibt es die "Nachricht" (mit Bezug auf das Bundesfinanzministerium, aber zumindest ich habe die wirkliche Quelle nicht gefunden), dass es einen "rasanten Anstieg" der Zahlungen für Kinder im Ausland gegeben hat. In der SZ heißt es: "Im Juni 2018 wurde dem Bundesfinanzministerium zufolge für 268 336 Kinder, die außerhalb von Deutschland in der Europäischen Union oder im Europäischen Wirtschaftsraum leben, Kindergeld gezahlt." (In diesem SZ-Online-Artikel wird übrigens, anders als in der Printausgabe, der "rasante Anstieg" bezweifelt.)
Es ist ziemlicher Unsinn, die Zahlen von Juni mit denen von Dezember zu vergleichen. Dass im Sommer mehr Personen ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort in Deutschland haben, erklärt sich schon durch die Saisonarbeit. Vielleicht gibt es auch, bedingt durch die gute Konjunktur, einen Trend, dass mehr Personen aus dem Ausland in Deutschland arbeiten (also Steuern zahlen und ja, auch Kindergeld bekommen). Durch diverse Reformen im Finanzsektor ist es übrigens inzwischen wesentlich einfacher, ein Konto im Ausland zu halten, auch wenn man dauerhaft in Deutschland ist. Was sich also tatsächlich verändert hat, ist kaum festzustellen.
Besonders Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link (SPD) tut sich gerade mit aggressiven Äußerungen gegen angebliche "Armutsflüchtlinge" hervor. In der SZ vom 10.08.2018 wird er mit den Worten zitiert: "Wir haben derzeit rund 19 000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien in Duisburg, Sinti und Roma." Das Argument geht so: In Duisburg sind die Mieten so billig, dass man hier schnell einen Wohnsitz kriegt und dann vom Kindergeld die Miete, die Kinder in Rumänien und auch noch ganze kriminelle Schlepperorganisationen leben.
Die Antwort der Bundesregierung auf die AfD-Anfrage hält ein paar interessante Zahlen dazu bereit: 2017 gab es 76.256 rumänische KindergeldbezieherInnen, die Geld für 126.963 Kinder bezogen haben. 110.333 davon lebten in Deutschland. Es geht also um weniger als 40 Millionen Euro im Jahr ((126963-110333)*200*12=39912000).
Würde man diesen Betrag einbehalten und auf alle 14.722.162 Kinder, die Kindergeld bekommen, verteilen, dann wären das 2,7 Euro pro Kind pro Jahr. Und damit wäre die Kinderarmut sicherlich bekämpft! Und nur zur Erinnerung, das Kindergeld wird aus Bundesmitteln finanziert, nicht von den Kommunen (aber zum Teil von den Steuern, die rumänische ArbeiterInnen in Deutschland zahlen).
Der Fall ist ein weiteres trauriges Beispiel, wie Medien und Politik die Agitation der AfD übernehmen.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Kritik an dem Science-Artikel der Priesemann-Gruppe „Inferring change points in the spread of COVID-19 reveals the effectiveness of interventions“

Der Science-Artikel von Dehning et al. (2020) gilt als Beleg für die Effektivität der Corona-Maßnahmen in Deutschland im März 2020. Wir glauben, dass der Artikel gravierende Fehler enthält und daher nichts darüber aussagt, ob insbesondere das Kontaktverbot vom 23.03.2020, irgendeinen Effekt hatte. Unsere Kritik haben wir bei Science eingereicht und sie ist hier zu finden: https://science.sciencemag.org/content/369/6500/eabb9789/tab-e-letters Im folgenden übersetze ich unseren Beitrag und gehe anschließend auf die Frage ein, wie Wissenschaft unter COVID-19-Bedingungen funktioniert und was daran bedenklich ist. Eine Kritik an ‘Inferring change points in the spread of COVID-19 reveals the effectiveness of interventions’ Wir haben den Artikel ‘Inferring change points in the spread of COVID-19 reveals the effectiveness of interventions’ analysiert und dabei gravierende Unstimmigkeiten im Design der Studie festgestellt: Anstatt das Datum der Wendepunkte (wann sich die COVID-19-Entwicklung i

Der Nutzerismus: Eine Ideologie mit totalitärem Potential

Ich glaube, dass wir derzeit den Aufstieg einer Ideologie erleben, die ich Nutzerismus nennen möchte. Hannah Arendt hat darauf hingewiesen, dass jede Ideologie zu einem totalitaristischen Regime führen kann und es gibt ernste Anzeichen, dass dies auch für den Nutzerismus gilt.  Was ist der Nutzerismus? Wie bei jeder Ideologie ist der Kerngedanke sehr einfach: Im Prinzip gibt es für alle gesellschaftlichen Probleme eine technische Lösung. Leider wenden die Menschen die richtigen Technologien nicht an. Sie nehmen ihre Rolle als Nutzer nicht wahr. Es geht dem Nutzerismus also um das Zusammenspiel von Mensch und Technik, allerdings immer wieder aus der gleichen Perspektive. Die Technik kommt vor als potentielle Lösung eines gesellschaftlichen Problems. Eventuell fehlt die perfekte Lösung noch, aber das ist dann als Auftrag an die Wissenschaft und die Ingenieure zu verstehen. Dieser Technikglaube hat etwas sehr Naives. Er abstrahiert zum Beispiel von allen Interessen, für die Technologien

Was man an der COVID-Politik über Faschismus lernen kann

Kritiker der Corona-Politik führen immer häufiger den Begriff Faschismus im Munde, um die politischen Maßnahmen zu beschreiben. Einerseits ist damit natürlich eine polemische Ablehnung verbunden: Wer will schon für Faschismus sein? Generell ist der moralische Vorwurf, etwas sei faschistisch oder faschistoid in der demokratischen Auseinandersetzung durchaus geläufig. Dabei wird jedoch meist auf etwas verwiesen, was zum demokratischen Staat dazu gehört und gerade keinen Faschismus begründet: Die Polizei, die das Gewaltmonopol durchsetzt, ist keine faschistische Organisation, ein Parlament, welches Bürgerrechte einschränkt, ist kein Beleg für die faschistische Aufhebung des Rechtsstaats und ein Medienartikel, der dazu aufruft, Bürger sollen Straftäter anzeigen, ist keine faschistische Propaganda, usw. All dies sind Beispiele für das Leben in demokratischen Gemeinwesen. Anstatt die Demokratie also immer gleich auf dem Weg in den Faschismus zu wähnen, wäre es angebracht, sich zu fragen, war